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Bei den AVM geht es jedoch nicht primär um Rabattmodelle mit tieferen Kosten. Durch das Gate- keeping werden nämlich einerseits Bagatellfälle (unnötige Besuche in der Arztpraxis oder Notfall- aufnahme) vermieden und andererseits eine Koordination der medizinischen Leistungen möglich. Ein Patient wird z. B. durch einen einzigen Arzt in einer Gemeinschaftspraxis betreut. Dieser ist die zentrale Drehscheibe zwischen verschiedenen Spezialisten und Spitälern. Derselbe Arzt hat auch den Überblick über die unterschiedlichen Untersuchungen, die Laborwerte und die verschriebenen Medikamente. Das Resultat ist eine bessere Qualität und damit verbunden auch tiefere Kosten. 25.6 Aktuelle Herausforderungen Kosten sind immer das Produkt von Menge und Preis. Die Menge ergibt sich wiederum durch An- gebot und Nachfrage. Die Kosten des Schweizer Gesundheitswesens steigen relativ betrachtet seit Jahren stärker als die gesamte Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt; BIP). Der Prozentwert des Wachstums liegt im Gesundheitsbereich also höher und es beansprucht somit einen immer grösseren Anteil der Wirtschaftsleistung. In einer hochentwickelten Gesellschaft wie der Schweiz ist dies keine grosse Überraschung. Bei der Gesundheit handelt es sich um ein Spezialgut (sog. su- periore Güter mit Einkommenselastizität > 1). Je reicher die Menschen sind, desto wichtiger wird die eigene Gesundheit und desto höher liegt auch die Zahlungsbereitschaft für Gesundheitsgüter.
Kostenentwicklung
Jährliche Kosten des gesamten Gesundheitswesens pro Person
in CHF
10 000 9000 8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 0
Preis von Leistungen
(Quelle: BFS, Kosten und Finanzierung des Gesundheits- wesens seit 1960 & LIK )
Menge von medizinischen Leistungen
jährlich über CHF 10 000.–
Angebot
Nachfrage
Kosten pro Person (real, Preise 2018)
Mengenausweitung
Die Entwicklung der Gesamtkosten der letzten Jahre wurde vor allem durch eine Mengenauswei- tung verursacht. Es liegt nahe, der «Überalterung» die Schuld zu geben. Gesamthaft wichtiger sind aber systembedingte Fehlanreize. Einerseits begünstigen gewisse Finanzierungsregeln eine kostentreibende Gesundheitsversorgung (Details dazu im nächsten Abschnitt unter «Kosten- dämpfungsmassnahmen»). Andererseits haben die Leistungserbringer einen Informationsvor- sprung (sog. «Asymmetrische Information») gegenüber den Patienten und den Versicherern. Nur Leistungserbringer wissen in den meisten Fällen, welche Behandlungen nötig sind und wel- che nicht. Der Umfang an Leistungen bestimmt jedoch gleichzeitig massgeblich ihr Einkommen. Im Zweifelsfall wird darum eher zu viel als zu wenig behandelt. Die Erwartungshaltung der Bevölkerung gegenüber der Medizin und dem Gesundheitswesen trägt ebenfalls zur Kostenentwicklung bei. Die Patienten treten immer aktiver und fordernder gegenüber den Leistungserbringern und dem Gesundheitswesen im Allgemeinen auf. Und nicht zu vernachlässigen ist schlussendlich auch der Effekt, dass in der Grundversicherung ab einem gewis- sen Schwellenwert – nämlich wenn Franchise und Selbstbehalt aufgebraucht sind – eine zusätzli- che Einheit medizinischer Leistung nichts mehr kostet, die Grenzkosten also bei Null liegen. In der Fachsprache nennt man diese Übernachfrage «Moral Hazard». Dieser Effekt führt zu Überkonsum.
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